Wolf und Lamm
1) Ein Lämmlein trank ganz frische
An einem kühlen Bach.
Da kam aus dem Gebüsche
Ein Wolf und schlich ihm nach.
Bald sprach er zu dem Lamme : »
Was hab ich dir getan ?
Der Strom ist voller Schlamme,
Dass ich nicht saufen kann ! »
2) Das Lamm gab gute Worte
Und sprach : « Du treibst nur Scherz !
Fliesst nicht von deinem Orte
Der Strom herunterwärts ? »
Der Wolf war überwiesen,
Doch fing er wieder an :
« Du hast vor diesem
Mir Unrecht angetan.
3) Ich ward vergangnen Winter
An Ehren angetast,
Doch kam ich bald dahinter,
Dass du gelogen hast ! »
« Im Winter war’s verbrochen ?
Ei, Wolf, wo denkst du hin ?
Es wird ja erst vier Wochen,
Dass ich geboren bin ! »
4) So deutlich überführte
Den Wolf des Lamms Bericht,
Doch alles dieses rührte
Des Mörders Herze nicht.
Er sprach mit Ungestümen :
« Dein Vater hat’s getan ! »
Und fing darauf im Grimmen
Das Lamm zu fressen an.
5) So treiben grosse Herren
Manchmal dergleichen Spiel,
Die Unschuld mag sich sperren,
Soviel sie kann und will.
Die Armen gelten wenig,
Die Frommen leiden Not ;
Den Weinberg nahm der König,
Und Naboth schlug er tot.
Schönenburg 1856
Source :
"Das Volkslied im Elsass", Joseph Lefftz, vol. 1, page 121 (voir la bibliographie)